„Nacht und Träume“ - Zentralbegriffe der Romantik

Preis der Weltkönigin, der hohen Verkündigerin heiliger Welten, der Pflegerin seliger Liebe – sie sendet mir dich – zarte Geliebte – liebliche Sonne der Nacht – nun wach ich – denn ich bin dein und mein – du hast die Nacht mir zum Leben verkündet – mich zum Menschen gemacht

Novalis, „Hymnen an die Nacht“, 2. Gesang

Nacht und Träume“, zwei Eckpfeiler nicht nur in den „Hymnen an die Nacht“ von Novalis, einem Werk, das wegweisend für die Romantik und Ihrer Flucht vor der Wirklichkeit im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts war. Die Romantik lehnte die Gesellschaft mit ihrem Gewinnstreben und Nützlichkeitsdenken im aufkommenden industriellen Zeitalter ab, so wie sie der Aufklärung vorwarf, alles nur auf seine Verwertbarkeit zu untersuchen und keine Geheimnisse mehr zu lassen.

Nun weiß ich, wenn der letzte Morgen sein wird – wenn das Licht nicht mehr die Nacht und die Liebe scheucht – wenn der Schlummer ewig und nur ein unerschöpflicher Traum sein wird.

Novalis, „Hymnen an die Nacht“, 4. Gesang

Vielmehr glaubte die Romantik an die Macht des Ahnens, der Intuition und pries das Reich der Phantasie und speziell des Traumes, in dem man in die unbewussten, dunklen Bereiche der Seele schauen konnte. Sicher bezogen die Psychoanalyse und die moderne Psychologie ihre Nahrung unter anderem aus der romantische Literatur und nicht zuletzt ihrer Ausdeutung durch die Musik, die Unausgesprochenes und Unaussprechliches von jeher am besten ausdrücken konnte, wie es auch Bettina von Arnim in einem Brief an Goethe schrieb: „Musik beginnt da, wo der Verstand nicht mehr ausreicht.“

Die Romantiker pflegten die abgeschlossene Welt des intakten Freundeskreises, wie durch Schubert und dessen Freundeskreis bestens bekannt, und begeisterten sich für die einfache Kunst des Volkes, aber auch für die Schönheit und Wildheit der Natur. Diese „Gegenwelten“ zur Wirklichkeit des Alltags  wurden zusammengefasst unter dem Begriff der „Poesie“, einer Kraft, die, ständig wachsend, unerschöpflich in allen Dingen wirkt und deshalb auch „Universalpoesie“ genannt wird.

Ein Traum bricht unsre Banden los
Und senkt uns in des Vaters Schoß

Novalis, „Hymnen an die Nacht“, 6. Gesang

Franz Schubert gilt heute als Inbegriff dessen, wie sich ein Künstler zu Beginn des 19. Jh. mit der Poesie und den Werten  der Romantik beschäftigte. Sein über 600 Werke umfassendes Liedschaffen bildet den Stützpfeiler des romantischen Kunstliedes und des Kunstliedes an sich.

Es erstaunt, wie früh Schubert zu seinem Stil und dessen Vollendung gefunden hat. „Gretchen am Spinrad“, sein erstes Meisterwerk schrieb er 1814 – gerade einmal 17 Jahre alt – den „Erlkönig“ ein Jahr später. Einen Beweis hierfür geben zahlreiche Lieder auf dieser CD, die in den Jahren 1814 bis 1816  entstanden und die zu Recht „Meisterwerke“ genannt werden.

Interessant, welche Texte Schubert immer wieder zu Vertonungen veranlasst haben. Neben mythologischen Themen reizten ihn die für die Romantik typischen, stets wiederkehrenden Themen, die in der vorliegenden Auswahl auch vorherrschen:

- „Nacht“ und „Schlaf“ als Synonyme für den Tod.

- „Flora und Fauna als Vertraute“, die durch ihre Präsenz mit der Hauptperson „spricht“ und tröstet.

- „Der Wanderer“, Sinnbild des Fernwehs und der Flucht aus der  Enge der Lebensverhältnisse in eine Welt, die als Ahnung oder sehnsüchtiger Traum in der Phantasie entsteht.

- „Die Waldeinsamkeit“, bei der der Betrachter, im Schutze der Nacht in einen Dialog mit der Natur tritt, wobei die Natur als Inbegriff der unentfremdeten Lebensqualität gegen die Stadt als Inbegriff der Zivilisation gesetzt wird.

Bei allen Liedern der vorliegenden CD lässt sich eine grundsätzliche Wendung nach innen beobachten, ein „In-sich-Hineinhorchen“, das ebenfalls typisch für die Romantik ist, denn „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“  (Novalis). Die Grenzen der bekannten Tagwelt werden überschritten und der psychische Innenraum des Menschen wird als Thema entdeckt. Die Nacht ist Zeit menschlicher Sinnesschärfe, Schlaf und Traum Zustände wundersamer Erscheinungen, neuer Welterkenntnisse aber auch grauenvoller Ängste.

Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet

Novalis, „Hymnen an die Nacht“, 2. Gesang

Der Weg zur modernen Psychologie ist nicht weit: In der Definition der modernen Psychologie ist ein wichtiger Unterschied zwischen Traum und Tagwelt die intensive emotionale Färbung der Träume. Wir erleben im Traum die gleichen Gefühlslagen wie im Wachzustand, nur intensiver, ungehemmter und beeindruckender. Die Gesetze der Physik sind abgelöst von den Bedürfnissen der Gefühlswelt.

Und auch in der Musik Schuberts lässt sich ein tiefes, wenn auch intuitives Verständnis für die menschliche Psychologie erkennen. Dies vor allem in den für Schubert so typischen minimalen Nuancen, mit denen er das poetische Ich charakterisiert: eine Moll-/Dur-Rückung hier, eine kleine strophische Variation da, eine plötzliche Modulation. Dabei schafft er es, Rhythmik und Harmonik in den Dienst des Gesamtausdrucks zu stellen. Selbst in den erzählenden, humorvollen Liedern („Liebeslauschen“ und dem berühmten „Ständchen“) erzählt er mit einfachen Mitteln viel mehr als in den bisweilen nicht immer hochkarätigen dichterischen Vorlagen enthalten ist.

Gefühle und Emotionen werden bei Schuberts Nachtliedern, wie im Traum, komprimiert und konzentriert und scheinbar Unlogisches wirkt völlig glaubhaft, wie die Antworten des Abendsterns im gleichnamigen Lied. Die Lieder werden quasi zu auskomponierten Träumen.

Ich lebe bei Tage
Voll Glauben und Mut
Und sterbe die Nächte
In heiliger Glut

Novalis, Hymnen an die Nacht 4. Gesang

Die Nacht und der Traum bieten für Schubert also das perfekte Sujet um seine Charakterisierungskünste voll zu entfalten. Für einen Sänger sind diese Lieder deshalb von besonderem Interesse, bieten sie  ihm doch die Möglichkeit, zahlreiche Facetten des menschlichen Seelenlebens von verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.

Natürlich soll die vorliegende Liedsammlung keinen abgeschlossenen Zyklus darstellen, doch sind die Lieder so aufeinander abgestimmt, dass sie sich ergänzen, Gegenpositionen einnehmen und im Falle von „Liebeslauschen“ sogar eine kleine Parodie auf das romantische Nachtlied darstellen.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein paar Anregungen zum Thema der CD geben und wünsche Ihnen nun viel Freude beim Hören und beim Eintauchen in Schuberts Welt der „Nacht und Träume“.

(c) Timothy Sharp, 2005

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